«Es gibt zu viele linke Wagenburgen»
Rot-Grün-Mitte (RGM) verfügt im Berner Stadtrat nicht mehr über eine sichere Mehrheit. Die GFL/EVP-Fraktion verhilft vermehrt bürgerlichen Anliegen zum Durchbruch. Für Fraktionschef Peter Künzler (GFL)ist RGM nur mehr ein «Exekutivwahlbündnis».
Bernhard Ott, 20.11.2010, Der Bund
Seit den letzten Wahlen suchen die Mitte-Parteien im Berner Stadtrat – auch die GFL – vermehrt die Koalition mit der Rechten. Herr Künzler, was hat das bisher gebracht?
Die neue Machtverteilung hat Bewegung in den Stadtrat gebracht. Die Meinungen stehen nicht immer schon im Voraus fest und werden manchmal erst in der Ratssitzung gemacht. So hat die Mitte zum Beispiel die Idee von Betreuungsgutscheinen in die Debatte um die externe Kinderbetreuung eingebracht. Das wäre früher nicht mehrheitsfähig gewesen.
Gerade dieses Beispiel zeigt aber, dass die Mitte sich oft Schnellschüsse leistet: Zuerst wird ein Pilotversuch zur Einführung von Betreuungsgutscheinen lanciert, dann will man die Idee stattdessen als Gegenvorschlag zur Kita-Initiative realisieren, und schliesslich merkt man, dass es noch mehr juristische Abklärungen braucht.
Dieser Einwand ist zum Teil berechtigt. In diesem Fall ist das Problem aber entstanden, weil die SP ihrerseits vor den Wahlen 2008 mit dem Schnellschuss Kita-Initiative kam. Damit baute sie die 12-jährige Arbeit von RGM am Ausbau der Kinderbetreuung einfach in ein grundsätzliches Recht auf einen Kita-Platz um. Und jetzt müssen wir über eine Initiative mit unabsehbaren Folgen fürs Budget abstimmen.
Es gibt weitere Beispiele für Schnellschüsse – etwa das Lavieren der GFL/EVP-Fraktion beim Schulreglement. Ist das eine Folge der Konkurrenz durch die Grünliberalen?
Nein, die GLP gräbt eher der FDP Wähler ab als uns. Unser Lavieren hat andere Gründe. Heute gibt es konsensfähige Leute in der bürgerlichen Mitte. Leute wie BDP-Stadtrat Martin Schneider zum Beispiel, die auch von rechts Themen wie Integration auf eine überzeugende Art thematisieren. Wir meinen, dass es in Bern – vor allem im Hinblick auf Bern-West – in Zukunft integrativere Schulmodelle braucht als das Modell Manuel.
Und dennoch wies die GFL die erste Version des Schulreglements zurück – in einer unheiligen Allianz mit den Befürwortern des Manuel-Modells.
Wir wollten einfach Bewegung in die Sache bringen. Es gibt – gerade in Schulfragen – zu viele linke Wagenburgen. Und um diese zu erhalten, hat die SP die Diskussion verweigert. Dabei hätte man ins Gespräch kommen können.
Die GFL/EVP-Fraktion galt früher als besonnen – warum hat sie jetzt beim Versuch mitgeholfen, das Pensionsalter für städtische Angestellte zu erhöhen?
Wir haben einen Paragrafen verändert, der es den Angestellten verbietet, länger als bis 63 zu arbeiten. Natürlich war es ein Schnellschuss, aber es handelte sich ja um keinen weltberühmten Paragrafen. Es stimmt, dass man zuerst mit den Sozialpartnern hätte reden sollen. Ich kann aber versichern: Wir werden uns mit den Gewerkschaften finden.
Wie arbeiten GFL/EVP, GLP und BDP/CVP zusammen? BDP/CVP-Co-Fraktionspräsident Kurt Hirsbrunner sagte, man informiere einander etwa über Anträge.
Man hat das abgemacht, aber es funktioniert nicht. Bei RGM aber funktioniert es. RGM ist für uns ein Exekutivwahlbündnis. Wir sind bei RGM, weil wir eine RGM-Mehrheit im Gemeinderat wollen.
Sie sind mit RGM verheiratet, haben Ihre Affäre aber mit der bürgerlichen Mitte. Sie sprachen mal von RGM-«Abnützungserscheinungen».
Die Abnützungserscheinungen haben für uns mit den erwähnten Wagenburgen zu tun, die SP und GB à tout prix verteidigen, anstatt dass sie Lösungen mit neuen Verbündeten suchen. Wir möchten das aufbrechen.
SP und GB werden Ihnen dafür die Leviten lesen.
Das mag sein. Aber ich möchte betonen: Wir sind fest in RGM eingebunden. Absprachen über Anträge und Abstimmungsverhalten sind da Standard. Inhaltlich sind wir nach wie vor eine RGM-Partei. Wir haben aber Probleme mit einem Teil von RGM…
…ausgerechnet mit dem Grünen Bündnis (GB), mit dem Sie gemeinsam unter dem Dach der Grünen Kanton Bern sitzen.
Ja. Wir haben nun mal keine Theorie, wie die Gesellschaft funktioniert. Und deshalb wissen wir auch nicht zum Voraus, welche Hebel man betätigen muss, damit es gut rauskommt.
Darum wirkt Ihr Koalitionsverhalten im Stadtrat manchmal so chaotisch?
Das mag sein. Lassen Sie mich das Problem mit einem Bild erläutern:
Wir stehen vor einem farbigen Herbstbaum. Links sagen sie: Der Baum ist nicht schwarz, er ist grau. Rechts sagen sie: Der Baum ist nicht weiss, er ist nur grau. Der Baum ist aber farbig! Wenn man von Extremen aus denkt, ist alles, was nicht extrem ist, graues Wischiwaschi. Wir wissen nicht immer die Antwort. Wir wissen zum Beispiel nicht a priori, ob es besser ist, zu verstaatlichen oder den Markt spielen zu lassen.
Sie brauchten eine ideologische Nachschulung durch RGM.
(Lacht.) Nein, wir sind nicht auf einer Linie mit den Mitte-Parteien.
Welche Perspektiven sehen Sie noch innerhalb von RGM?
RGM kommt allmählich aus den Schützengräben raus. Der Prozess der Erneuerung ist im Gang. Es gab aber schwere Blamagen wie die Debatte über den Missbrauch in der Sozialhilfe. Zuerst gab es eine Wagenburg von SP und GB. Schliesslich mussten sie nachgeben und Kontrollmechanismen zustimmen.
Dafür brauchte es einen «Rambo» wie Philippe Müller (FDP). Die Mitte-Parteien alleine hätten die Burg nicht geknackt.
Es braucht einen, der übers Ziel hinausschiesst, wenn die Gegenseite nur mauert. Ich habe mich als RGM-Mitglied über die unbewegliche Art aufgeregt, mit der man die Krise hat entstehen lassen.
Auf deren Höhepunkt hat SP-Stadtrat Ruedi Keller die Genossen aufgerufen, die GFL aus dem RGM-Bündnis zu werfen. Repräsentiert Keller einen starken «Fundi-Flügel»?
Wir hatten damals mehr oder weniger die Bündnisfrage gestellt, falls RGM weiter mauern sollte. Keller hat auf unsere Provokation reagiert.
Strebt die GFL bei den Wahlen 2012 einen Sitz im Gemeinderat an? Mit RGM oder mit der Mitte?
Die Grünen haben mit Regula Rytz von der GB eine tolle Gemeinderätin. Wir von der GFL haben Rytz «adoptiert». Sie ist die Person bei RGM, die immer offen ist. Rytz hat die GFL an RGM gebunden. Ein Beitritt zu einer allfälligen Mitte-Liste ist daher keine Option.
Das heisst, mit der eigenen Kandidatur werden Sie den zweiten SP-Sitz angreifen?
Das ist so. Das GFL-Mitglied Daniel Klauser hatte bei den letzten Wahlen nur einen kleinen Rückstand auf die gewählte Edith Olibet (SP).
Ohne Klauser hat die GFL aber ein Personalproblem. Treten Sie an?
Ich beziehe AHV. Alte Männer sollten nicht für Exekutivämter kandidieren.
Was ist mit dem einstigen Fraktionschef Ueli Stückelberger?
Ueli Stückelberger hat einen tollen Job im Verband öffentlicher Verkehr. Viele finden den Gemeinderatsjob unattraktiv.
Wegen der Lohnlimite von 200 000 Franken?
Nein. Aber es gibt eine 60-Stunden-Woche. Gemeinderäte müssen zudem für Fehltritte in der Öffentlichkeit geradestehen.
Dann wäre eine jüngere Frau angesagt, zum Beispiel Tania Espinoza?
Der Name wird auch diskutiert. Ich bin nicht in der Findungskommission.
Als wie wahrscheinlich erachten Sie das Zustandekommen einer Mitte-Liste?
Ich denke, diese Liste ist sehr wahrscheinlich. Und sie wird sich um Reto Nause (CVP) formieren.
Werden auf der Mitte-Liste jene Bürgerlichen zu finden sein, die nicht mit Erich Hess (SVP) auf eine Liste wollen?
(Lacht.) Daran habe ich jetzt nicht gedacht. Aber es ist sehr wohl möglich, dass die SVP mit Erich Hess kommt.
Würden Sie es bedauern, wenn die Mitte nach den nächsten Wahlen wieder verschwinden würde?
Das wäre ausserordentlich bedauerlich, denn wir haben nun auch rechts Gesprächspartner von hoher Qualität.