Wie volksnah politisieren die Stadtberner Parteien? Ein Gradmesser für die Nähe der Parteien zum Volk sind gewonnene Abstimmungen. Die Auswertung aller 31 umstrittenen Vorlagen in der ablaufenden Legislatur – wobei Gegenvorschläge und Initiativen separat gerechnet wurden – fördert unter den Stadtratsparteien mit Fraktionsstärke nicht nur die erwarteten Resultate zutage, sondern auch Überraschungen.
Die Grüne Freie Liste (GFL), immer wieder als regierungstreuste Partei des RGM-Lagers gelobt oder kritisiert, liegt an der Spitze (siehe Tabelle). Konkret stimmte die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler seit 2008 in 26 umstrittenen Abstimmungen so, wie es die GFL empfahl: «Man kann dies als Wischiwaschi-Politik abtun oder als Resultat dafür sehen, dass wir auch einmal etwas länger nach tragfähigen Lösungen suchen», sagt Parteipräsidentin Dorothea Loosli. Obwohl sie keine Buchhaltung über Siege und Niederlagen führe, habe sie das Resultat «fast vermutet».
Überraschter tönt Peter Ammann: «Man kann uns einfach nicht ins Rechtslinks-Schema pressen», sagt der Präsident der Grünliberalen. Andererseits staune er als Vertreter einer «Nochnicht-Gemeinderatspartei» hie und da, wie weit die Positionen von Fraktionen und Gemeinderatsmitgliedern auseinanderlägen. «Aber es ist natürlich schön, wenn einem das Volk so oft recht gibt.» Der zweite Platz der Abstimmungssieger geht jedoch an die SP. Auch wenn die Sozialdemokraten – wie auch das Grüne Bündnis (GB) – mit den Bahnhofplatz-, Kita- und Energie-Wende-Bern-Initiative gleich in drei hart umkämpften Geschäften teilweise knapp unterlagen.
BDP: linker als im Kanton
Die zweite Überraschung ist die BDP: Obwohl sie sich als«neue bürgerliche Kraft» anpreist, schaff te die jüngste der Parteien im rot-grünen Bern fast so viele Abstimmungssiege wie das linke GB oder die Mittepartei GLP. «Unsere Positionen, die im Vergleich zur kantonalen BDP hie und da linker ausfallen, werden off enbar gut aufgenommen», resümiert Co-Präsident Kurt Hirsbrunner.
Zwanzig Jahren RGM-Mehrheit zum Trotz konnten in den letzten vier Jahren aber auch die Bürgerlichen bei Abstimmungen punkten: «Finden wir mit den Mitteparteien gangbare Kompromisse, haben auch wir Erfolgserlebnisse»,sagt Peter Bernasconi. Der SVP-Präsident verweist ebenfalls auf den Gegenvorschlag zur Kita-Initiative, auf die knapp abgelehnte Initiative für einen autofreien Bahnhofplatz oder die Annahme des Gegenvorschlags zur links-grünen Atomausstiegs- Initiative Energie-Wende-Bern. «Wären wir öfter bei den Siegern, müssten wir uns fragen, ob wir noch gute Oppositionspolitik machen»,fügt Bernasconi lachend hinzu.
Ins gleiche Horn bläst FDP-Präsidentin Dolores Dana: «Würden wir aus Opportunitätsgründen jeweils Ja sagen zum Budget, schnitten wir nun viel besser ab.» Doch gebe es auch «halbe Erfolge», etwa der angenommene Gegenvorschlag zur FDP-Initiative «Für eine sichere Stadt Bern»:«Damit wurde nach Jahren endlich das Polizeikorps etwas aufgestockt.» Manchmal sei es sogar so, dass die « oppositionellere Basis» die Parteiführung auf Erfolg trimme: Statt Stimmfreigabe beschloss die FDP-Versammlung jüngst ein Nein zur Aufhebung der Lohnobergrenze von 200 000 Franken für Gemeinderatsmitglieder – und führte die FDP damit zusammen mit der SVP gegen das geschlossene RGM-Lager sowie BDP und GLP am Abstimmungssonntag auf die Siegerstrasse.
Der Bund, 5.11.12, Samuel Thomi
Bund-Artikel: GFL volksnah